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Cannabis als Medizin: Der aktuelle Stand
Franjo Grotenhermen
Der menschliche Körper produziert kontinuierlich Substanzen, die ähnliche Wirkungen ausüben wie Marihuana und an spezifische Rezeptoren auf Körperzellen binden. Die Entdeckung dieses Cannabinoid-Rezeptorsystems hat im vergangenen Jahrzehnt wesentlich zu dem erneut wachsenden Interesse an der Cannabisforschung beigetragen.
Von den Anfängen
Die Geschichte der medizinischen Cannabisverwendung reicht in Asien und Vorderasien weit in die vorchristliche Zeit zurück. Zubereitungen aus dem "indischen Hanf" fan-den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Arzneibücher Europas und Nordamerikas, beispielsweise zur Behandlung von Tetanus, Epi-lepsie, Migräne, Rheumatismus, schmerzhafter Menstruation, Asthma, Depressionen und Altersschlaflosigkeit. Die Jahre 1880-1900 stellen eine Blütezeit der therapeutischen Cannabisverwendung dar.
Der größte Nachteil der von verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen angebotenen Präparate wie etwa von der Firma Merck in Darmstadt war die schwankende Konzentration ihrer pharmakologisch wirksamen Inhaltsstoffe mit entsprechenden Dosierungsproblemen. Die chemische Struktur der fettlöslichen und wasserunlöslichen Cannabinoide blieb lange ein Geheimnis.
Moderne Forschung
Gemeinsame Forschungsanstrengungen amerikanischer und britischer Forscher in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ergaben, dass das Destillat des indischen Hanfes, das sogenannte "rote Öl", im wesentlichen aus den pharmakolo-gisch weitgehend inaktiven Substanzen Cannabinol und Cannabi-diol sowie aus dem potenten Tetrahydrocannabinol besteht. Verbesserte Analysemethoden ermöglichten schließlich in den Jahren 1963 bis 1965 die Reindar-stellung, exakte chemische Strukturaufklärung und schließlich vollständige Synthetisierung des (-)-trans-Isomers des Delta-9-Tetrahydrocannabinol. Dieses Isomer aus der Hanfpflanze wird meistens mit THC abgekürzt oder mit dem Namen Dronabinol bezeichnet.
1975 wurde die erste moderne klinische Forschungsarbeit zur therapeutischen Wirksamkeit von THC bei Nebenwirkungen der Krebschemotherapie publiziert. Bis ins Jahr 2001 folgten mehr als 100 überwiegend kleine klinische Studien zur Wirksamkeit natürlicher Cannabisprodukte, einzelner natürlicher Cannabinoide (Delta-9-THC, Delta-8-THC, Cannabidiol) und synthetischer Cannabinoide (Nabilon, Levonantradol, Dexanabinol, Anandamid-Derivate etc.) bei unterschiedlichen Indikationen.
Tabelle 1: Zeittafel
1937-1940 Identifizierung der chemischen Struktur einiger Cannabinoide
1964 Identifizierung der exakten chemischen Struktur von D9-THC (Dronabinol)
1975 Beginn klinischer Studien mit Dronabinol
1988 Nachweis zentralnervöser Cannabinoidrezeptoren
1990 Aufklärung der Struktur des CB1-Rezeptors (Cannabinoid-1-Rezeptor)
1992 Nachweis des Endocannabinoids Anandamid (N-Arachidonylethanolamid)
1993 Aufklärung der Struktur des CB2-Rezeptors (Cannabinoid-2-Rezeptor)
1995 Nachweis des Endocannabinoids 2-Arachidonoylglycerol (2-AG)
1998 THC (Dronabinol) wird in Deutschland rezeptierfähig
Das Endocannabinoidsystem
1988 wurden spezifische Rezeptoren für Cannabinoide auf Gehirnzellen nachgewiesen, später ein weiterer Rezeptortyp auf Zellen des Immunsystems. 1992 wurde das erste Endocannabinoid, Anandamid, entdeckt. Die Entdeckung weiterer Endocannabinoide und Rezeptorsubtypen folgte. Dieses körpereigene Cannabinoidsignalsystem wurde zunächst in Säugetieren, später auch in Fischen und wirbellosen Tieren bis hinunter zu einfachen Polypen nachgewiesen. Es ist daher viele Millionen Jahre alt. Zu den bisher nachgewiesenen physiologischen Aufgaben beim Menschen zählen die Verarbeitung von Schmerzen, die Tonusmodulation der Muskulatur, die Regulierung des Blutdrucks, die Regulierung des Augeninnendrucks, Fortpflanzungsfunktionen, die Regulierung von Hunger- und Übelkeitsgefühlen, immunologische Funktionen und andere. Die physiologischen Funktionen des Endocannabinoidsystems bilden eine rationale Basis für die therapeutisch nutzbaren Cannabinoidwirkungen.
Das therapeutische Potential
Die wissenschaftliche Datenlage zur arzneilichen Wirksamkeit von Cannabisprodukten ist für unterschiedliche Erkrankungen sehr uneinheitlich ist. Für einige Indikationen wie Übelkeit und Erbrechen bei Krebschemotherapie, Appetitlosigkeit und Abmagerung bei HIV/Aids sowie Spastik bei multipler Sklerose und Querschnittssyndromen ist sie gut, für andere wie Epilepsie und Depressionen eher schlecht. Die Geschichte der historischen Anwendung von Cannabiszubereitungen und die klinische Erforschung der Cannabinoide zeigt allerdings, dass der wissenschaftliche Erkenntnisstand für eine spezifische Indikation nicht unbedingt das tatsächliche therapeutische Potenzial bei dieser Erkrankung reflektiert, da okönomische und politische Faktoren die Ausrichtung der Forschung mitbestimmen.
Um dem unterschiedlichen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gerecht zu werden, lässt sich eine Hierarchie der therapeutischen Effekte erstellen, die im Jahre 2001 etwa so aussieht:
Etablierter Effekt: Übelkeit und Erbrechen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust.
Relativ gut gesicherter Effekt: Spastik, Schmerzzustände, Bewegungsstörungen, Asthma, Glaukom.
Weniger gut gesicherter Effekt: Allergien, Juckreiz, Entzündungen und Infektionen, Epilepsie, Depressionen, bipolare Störungen und Angststörungen, Schlaflosigkeit, Abhängigkeit und Entzugssymptome.
Grundlagenforschung: Autoimmunerkrankungen, Krebs, Nervenschutz bei akutem Sauerstoff- und Blutmangel im Gehirn, Störungen des Blutdrucks.
Dronabinol (THC) darf seit dem 1. Februar 1998 in Deutschland von jedem Arzt auf einem Betäubungsmittelrezept verschrieben werden. In Deutschland kommen das US-amerikanische Dronabinol-Präparat Marinol und das von der Firma THC Pharm in Frankfurt hergestellte Dronabinol zu Anwendung.
Da diese Präparate sehr teuer sind und die Kosten von den deutschen Krankenkassen nicht erstattet werden müssen, werden von den meisten Patienten jedoch weiterhin illegale natürliche Cannabisprodukte bevorzugt. Die Konsequenzen der Illegalität stellen daher weiterhin die schwerwiegendsten Nebenwirkungen einer Behandlung mit Cannabisprodukten dar.
Tabelle 2: Mögliche Indikationen
Abhängigkeit und Entzugssymptome, Allergien, Juckreiz, Anorexie und Kachexie, Asthma,
Bewegungsstörungen, Depressionen - bipolare Störungen und Angststörungen, Entzündungen und Infektionen,
Epilepsie, Glaukom, Schmerzzustände, Spastik, Übelkeit und Erbrechen
Anwendungsbeschränkungen
THC und Cannabis dürfen nicht bei einer Allergie gegen THC angewandt werden (sehr selten).
Relative Kontraindikationen sind schwerwiegende psychiatrische Diagnosen, vor allem schizophrene Psychosen, Manien und endogene Depressionen, da sie verschlimmert werden können. Allerdings wird gelegentlich auch über eine positive Beeinflussung verschiedener psychotischer Symptome berichtet.
Cannabis sollte in der Schwangerschaft wegen umstrittener Hinweise auf eine leichte Störung der kindlichen Hirnentwicklung nur mit Zurückhaltung eingesetzt werden. Bei Herzerkrankungen sollten Überdosierungen vermieden werden, da THC in höheren Dosen die Herzfrequenz beschleunigt, die Herzarbeit vergrößert und den Blutdruck beeinflusst.
Perspektiven für die Medikamentenentwicklung
Eine der Herausforderungen für alle, die das therapeutische Potenzial von Cannabinoiden nutzen wollen, ist die Notwendigkeit zur Entwicklung von Strategien zur Reduzierung der unerwünschten psychischen Effekte. Zu diesen Strategien zählen:
Die Verbesserung der Verträglichkeit durch die gleichzeitige Gabe mehrerer Substanzen. So ist bekannt, dass die psychischen Wirkungen von THC durch Cannabidiol vermindert werden, so dass eine Kombination, etwa in einer natürlichen Cannabiszubereitung, die Verträglichkeit verbessern könnte. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Nutzung synergistischer Wechselwirkungen zwischen Cannabinoiden und Opioiden bei der Schmerzhemmung.
Einige Wirkungen sind nicht an die psychotropen Cannabinoidwirkungen gekoppelt, so dass nicht-psychotrope Cannabinoidabkömmlinge eingesetzt werden könnten.
Die Konzentration der Endocannabinoide kann durch Stoffe beeinflusst werden, die ihren Abbau oder ihre Wiederaufnahme in die Zellen beeinflussen. Der Vorteil dieses Vorgehens gegenüber der Zufuhr von Cannabinoiden könnte darin bestehen, dass diese Substanzen vor allem da wirken, wo bereits eine besonders starke Endocannabinoid-Produktion besteht.
Informationen
Regelmäßige Informationen zu neuen wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen bieten die 14-tägig im Internet erscheinenden IACM-Informationen. Kostenloses Abonnement unter http://www.cannabis-med.org/.
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